Was ist eigentlich Freiheit?

Eine Spurensuche von Jörg Hoffmann
 

„Freiheit“ kommt  auf 

Ein Schrei nach Freiheit geht quer durch die deutsche Bevölkerung – genau wie schon dazumal durch die katalanische. Wer erinnert sich nicht an die Bilder aus Nordspanien in den Medien, die denen von heute aus den bundesdeutschen Städten so ähneln – außer dass in Katalonien die Polizisten noch keine FFP2-Masken trugen. Während die Katalanen die staatliche Sezession von Spanien wollen, wollen deutsche Impfskeptiker die Aufhebung von Corona-Maßnahmen für Ungeimpfte. Beides wird als „Freiheit“ deklariert. 

Bevor ich auf die deutschen Demos zu sprechen komme, kurz zu den katalanischen: Als ich diese damals 2017 über Wochen in den Tagesschauen verfolgte, hörte ich die Sezessionisten immer wieder das Wort „Freiheit“ skandieren. Sonderbarer Weise wurden sie von unserer Investigativ-Presse nie gefragt, was genau sie denn damit meinen, obwohl das doch mal interessant gewesen wäre zu wissen, worum es überhaupt geht. Die Demonstranten wollen natürlich die staatliche Unabhängigkeit von Spanien. Aber das hätten sie ja ruhig auch so benennen können. Stattdessen immer wieder nur: „Wir wollen Freiheit!“ Und Freiheit ist nun mal nicht deckungsgleich mit staatlicher Unabhängigkeit. Sicher, für die Kurden zum Beispiel wäre die Bildung eines eigenen Staates tatsächlich Freiheit, weil sie in ihren jetzigen „Heimatländern“ Türkei, Irak und Syrien politisch verfolgt werden und an Leib und Leben bedroht sind. Und auch die Katalanen wurden unter dem spanischen Diktator Franco verfolgt, aber diese Zeiten sind seit dem Ende der Militärdiktatur 1977 vorbei. Seitdem genießen die Katalanen alle nur erdenklichen Sonderrechte. Unsinniger Weise schreien sie trotzdem nach „Freiheit“. 

 

Wie auch immer, merkwürdig an der ganzen Geschichte ist, dass niemand sie gefragt hat, was sie denn unter Freiheit verstehen. Auch den Nachrichtenzuschauern schien völlig klar zu sein, was die Katalanen meinen. Dabei ist gerade Freiheit – egal in welcher Sprache – einer der heikelsten und widersprüchlichsten Abstrakta, die man sich vorstellen kann. 

 

Aber die Ereignisse in Nordspanien liegen ja schon Jahre zurück und Corona hat den nordspanischen Aufrührern den Rang abgelaufen. Widmen wir uns daher den aktuellen Ereignissen, die uns hier und heute auf den Nägeln brennen! 

Also: Was wollen die deutschen „Freiheits-Kämpfer“ im Zusammenhang mit Corona? Klar: „Befreiung“ von staatlich angeordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Aber was bedeutet diese „Freiheit“ denn eigentlich? Es scheint ja etwas Wichtiges und Begehrenswertes, ja, vielleicht sogar Lebensnotwendiges zu sein. Mal abgesehen davon ist der Wunsch nach Freiheit bei allen Menschen vorhanden, wie die Geschichte zeigt. Natürlich muss man genau hinschauen, was jeweils damit gemeint ist. 

 

 „Freiheit“ nur mit Füllung 

Genauso wie eine Eiswaffel ohne Eis nur eben eine leere Waffel ist, so ist auch „Freiheit“ ohne genauere Bestimmung nur ein hohles Gefäß. Ein abstraktes Wort wie Freiheit, das keinen Gegenstand direkt bezeichnet, muss notwendiger Weise mit etwas gefüllt werden, um nicht bedeutungslos zu sein. So wie die Helligkeit definitionsgemäß das Licht braucht und die Dunkelheit dessen Abwesenheit, so braucht auch Freiheit, wenn sie sich nicht in Nichts auflösen soll, eine inhaltliche Bestimmung. Es gibt also immer nur ein Frei-sein-von oder ein Frei-sein-zu etwas Bestimmtem. In den Sätzen „Das Mehl ist glutenfrei“ und „Kreatives Arbeiten macht mich frei, zu leben wie ich will“ bedeutet Freiheit etwas völlig unterschiedliches. Auch ist Freiheit nicht immer etwas Gutes. Als zum Beispiel Wilhelm Tell vom Landvogt für vogelfrei erklärt wurde, war er, frei von sozialem Schutz, der Willkür und Verfolgung durch jeden Lynchmob „freigegeben“. „Freiheit“ hat für sich selbst keine Aussagekraft; es kommt vielmehr auf das Wovon oder Wozu an. 

 

Auf dem Transparent der Impfskeptiker im Bild oben liest man nun: „Freiheit statt Angst“. Das deckt sich sinngemäß mit dem berühmten Satz des Liedermachers Konstantin Wecker aus dem Song „Willi“: „Freiheit, des hoaßt koa Angst hamn, vor nix und niamands.“ Freiheit kann also bedeuten: frei sein von Angst. Dem kann ich absolut zustimmen. Der Haken an der Sache ist nur, dass sich die Menschen jeweils vor sehr Unterschiedlichem ängstigen. Denn es ist schon sehr merkwürdig, dass einigen Leuten hierzulande eine unfrei machende Angst erst im Zuge von Corona aufsteigt. Was ist mit der Freiheit von krank machenden Faktoren wie Stress und Druck z.B. am Arbeitsplatz? Was ist mit der Angst, entlassen und obdachlos zu werden? Macht sie nicht auch unfrei? Aber dass diese Freiheit den Leuten meist gar nicht in den Sinn kommt, liegt vielleicht auch daran, dass selbst unser Grundgesetz (Verfassung), das ja auch gerade die Impfskeptiker so gerne im Munde führen, sie nicht kennt. 

 

„Freiheit“ im Grundgesetz 

„ Ja, wir wollen doch endlich unsere Freiheit wiederhaben!“, sagen im Zusammenhang mit Corona eben nicht nur die Impfskeptiker. Die meisten BürgerInnen wollen eine vom Grundgesetz verbürgte „Freiheit“ zurück haben, ohne jedoch dazuzusagen, wovon oder wozu sie „befreit“. Daher schauen wir mal in unsere Verfassung (Grundgesetz) rein! 

 

In den ersten 19 Artikeln (von insgesamt 146) sind die Grundrechte behandelt, also die Rechte, die jedem Bürger bzw. Menschen unveräußerlich zustehen. Gedacht und konzipiert ist das Grundgesetz als Schutz für die Bürger vor staatlicher Willkür. Insofern kann sich der Protest auch grundsätzlich darauf berufen. Aber eben nur grundsätzlich. Denn zum einen gibt es dort eben kein allgemeines „Grundrecht auf Freiheit“; stattdessen gibt es mehrere Grundrechtsartikel, die verschiedene Freiheitsrechte behandeln. Und zum anderen erfahren alle diese unterschiedlichen Freiheitsrechte für bestimmte Eventualfälle Einschränkungen.  

Welche Freiheitsrechte sind das? 

 

Da ist zum Beispiel die Presse- und Meinungsfreiheit (Art. 5). Aber die kann von den DemonstrantInnen und anderen nicht gemeint sein, da sie in Zeiten von Corona nicht mehr und nicht weniger eingeschränkt ist als sonst auch. Auch die Religions- und Gewissensfreiheit (Art. 4) ist nicht in Mitleidenschaft gezogen, selbst wenn kirchlichen Versammlungsräume hin und wieder vorübergehend geschlossen werden müssen. Denn selbst die Versammlungsfreiheit (Art. 8) ist in der Pandemie erhalten geblieben. Wenn sie im Außenbereich mit Auflagen belegt wird (z.B. Masken- und Abstandspflicht), dann ist das nicht anders als bei den üblichen Demo-Auflagen sonst auch. Lediglich in Innenräumen, wie Kirchen, Kinos, Theatern sowie in Privaträumen ist die Versammlungsfreiheit vorübergehend eingeschränkt worden. Auch die Freiheit der Wohnung vor willkürlicher polizeilicher Durchsuchung ist gewahrt geblieben. Ebenso das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen

 

Gegen was demonstrieren einige BürgerInnen dann eigentlich? Warum immer wieder die Forderung, „die Freiheit wieder zu bekommen“, obwohl die einzelnen grundrechtlichen Freiheiten immer garantiert waren? Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass die meisten BürgerInnen seit der Zeit des Wirtschaftswunders dazu erzogen wurden, etwas ganz bestimmtes unter Freiheit zu verstehen, was aber eigentlich wenig damit zu tun hat. 

Denn da ist ja noch ein GG-Artikel, den ich bisher bewusst nicht angesprochen habe, der genau das zum Inhalt hat: 

Art. 11 (1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. 

 

„Freiheit“ und „Freizügigkeit“ 

Ah, ich denke, das ist genau der „Freiheits“-Artikel, den die meisten im Zusammenhang mit unserem Thema im Kopf haben. Er ist sozusagen der Inbegriff der wohlstandsbürgerlichen „Freiheit“. Bloß, dass es hier gar nicht um Freiheit geht, sondern um Freizügigkeit. Das ist ein ganz großer und bedeutender Unterschied. Diese fälschlicher Weise als Inbegriff von Freiheit deklarierte Wortbedeutung hat sich im Laufe der Zeit nicht nur bei den Impfskeptikern, sondern, wie gesagt, auch bei uns allen eingebürgert. Und wir haben uns im Zuge der ungezügelten Konsum-„Freiheit“ leider allzu sehr an diese Begriffsverwechslung gewöhnt. 

 

Was bedeutet Freizügigkeit in Artikel 11? Dieser wendet sich, wie alle Grundrechte, gegen obrigkeitsstaatliche Willkür, bekannt aus Zeiten, als Bürger noch ohne Begründung einfach so von Polizei und Geheimdienst festgenommen oder unter Hausarrest gestellt werden konnten. In dieser Hinsicht ist also die Freizügigkeit eine der größten Errungenschaften der Demokratie. Später wurde der Artikel dann allerdings als Kampf-Begriff gegen die in der DDR vermeintlich nicht vorhandene Reise-„Freiheit“ missbraucht. Und das, obwohl die DDR-Bürger selbstverständlich Reise-Freizügigkeit genossen, jedoch nicht über die Staatsgrenzen hinaus, speziell ins kapitalistische Ausland. Da im Gegensatz dazu unser Drang nach Freizügigkeit grenzenlos ist, sehen wir die ganze Welt als unseren grundgesetzlich garantierten Frei(zügigkeits)-Raum an. Aber diesbezüglich muss man die „Freiheits“-Liebenden enttäuschen: „Nicht vom Schutz des Grundrechts umfasst ist das Recht auf Ausreise oder Auswanderung, da sich die Gewährleistung der Freizügigkeit nur auf das gesamte Bundesgebiet beschränkt.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Freiz%C3%BCgigkeit#Deutschland

Denn wir dürfen nun mal nicht in jedes andere Land unserer Wahl einreisen. Leider sind viele ärmere Länder wirtschaftlich dazu gezwungen, einer hemmungslosen touristischen Freizügigkeit und der dazugehörenden ebenso hemmungslose „Infrastrukturveränderung“ stattzugeben. 

 

Aber auch im Westen gab und gibt es ja schon immer Einschränkungen der Freizügigkeit. Unser Recht, willkürlich überall hin latschen und uns dort willkürlich entfalten zu dürfen, endet nämlich an den Grenzen sowohl des Privateigentums wie des öffentlichen Interesses. Als ich z.B. in den 80ern eine Fahrradtour an den Genfer See machte, hatte ich nicht erwartet, dass man kaum ans Wasser heran kam, da das Ufer größtenteils von Privatvillen mit entsprechenden Latifundien abgeriegelt war. Auch sind Firmengelände sowie staatliche Sperrzonen von der bürgerlichen Freizügigkeit ausgenommen. Sogar Enteignung und Vertreibung innerhalb des Bundesgebietes sind möglich, wenn Aussicht auf Reibach als „öffentliches Interesse“ deklariert wird, wie die gigantischen Kohletagebausenken und der ungehemmte Autobahnausbau zeigen, denn wenn „etwa eine Betreibergesellschaft das Eigentum an allen Häusern eines Dorfes erworben hat, das einem Braunkohletagebau weichen soll (auch durch rechtmäßige Enteignungen), dann ist das als „Recht auf Heimat“ aufgefasste Recht auf Freizügigkeit gegenstandslos geworden“. (ebd.) 

Auch kann „der Staat– unter bestimmten Einschränkungen – außerdem die Freizügigkeit derjenigen Deutschen beschränken, die auf Staatsleistungen wie Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II angewiesen sind“. (ebd.) 

All das wissen wir. Und wir nehmen es gelassen hin. Deswegen geht kein Aufschrei nach Freiheit quer durch unsere Gesellschaft. Erst eine Pandemie scheint die Freiheit auf den Prüfstand zu bringen – aber in völlig anderer Weise, als es einige Bequemlichkeitsfanatiker und Impfhysteriker heraufbeschwören. Denn was die Impfdemonstranten und die selbsternannten Grundrechtswächter verblüffen dürfte, ist die im GG Artikel 11 Absatz 2 festgelegten Einschränkungen der Freizügigkeit: 

Art. 11 (2) Dieses Recht [auf Freizügigkeit] darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist.

 

Im Falle einer Seuchenbekämpfung und -prophylaxe darf also unser aller Freizügigkeit eingeschränkt werden. Aber ist damit auch unsere Freiheit eingeschränkt? 

Ich denke, genau das Gegenteil ist der Fall. 

 

„Freiheit“ und Willkür 

„Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ Dieser allseits bekannte Satz, der fälschlicher Weise Immanuel Kant sowie auch Rosa Luxemburg zugeschrieben wurde, zeugt von Respekt und Verantwortung. Auch scheint er der Inbegriff alles Sozialen zu sein. Daher ist er heute ja auch das Credo aller Vernünftigen und Verantwortungsbewussten. Aber was genau sagt er aus? Und ist er wirklich die Ultima Ratio von „Freiheit“? 

 

Zunächst fällt mir auf, dass es in dem Sätzchen eigentlich gar nicht um Verantwortung geht, sondern um die Abgrenzung des jeweils Eigenen des Individuums für sich. Freiheit bedeutet hier: Ein(e) jede(r) kann tun und lassen, was immer ihr/ihm beliebt und in den Sinn kommt. Im wirtschaftsliberalistischen Sinne ist damit auch die Abgrenzung des vom Grundgesetz verbürgten Eigentums gegenüber dem Eigentum anderer gemeint, also die Unternehmer- und Investitionsfreiheit. 

 

Das passende Wort dafür ist aber nicht „Freiheit“, sondern „Willkür“. Also müsste der obige Satz eigentlich heißen: „Die Willkür des Einzelnen endet dort, wo die Willkür des Anderen beginnt.“ Genau so hat es auch der Philosoph Immanuel Kant in seiner „Metaphysik der Sitten“ (1797) ehrlicher Weise gefasst: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ 

Wenn es uns also um Willkür geht, wieso bezeichnen wir es dann nicht so? Ganz einfach: Es klingt dann nicht mehr so edel und gut. Während dem Wort „Freiheit“ immer eine positive Bedeutung zukommt, ist das Wort „Willkür“ heute jedenfalls eher negativ konnotiert. Man denke nur an „Willkürherrschaft“, „Willkürstaat“ oder „Willkürentscheidung“. (Lediglich im rein medizinischen Sinne, also als willkürliche Bewegungsfreiheit von Körpergliedmaßen, ist das Wort positiv gemeint.) Daher wird das Grundprinzip unseres Zusammenlebens heute auch nicht mehr als Willkür bezeichnet, sondern lieber mit dem honorigen Wort „Freiheit“. 

 

Folglich sollte man also unsere „freiheitliche“ Gesellschaft vom Grundsatz her als Willkür-Gesellschaft sehen. Denn dann ist es nicht mehr verwunderlich, dass sich so viele Leute als Impfgegner und Querulanten-Denker erweisen, deren einziges Denken um ihren eigenen Bauchnabel kreist. 

Nur damit das nicht missverständlich ist: Ich habe in keiner Weise Verständnis für solche Unvernunft und Asozialität. Aber ich will verstehen, wie es zu einem solchen Phänomen kommt. Das aber kommt zwangsläufig in einer Gesellschaft auf, die die Freizügigkeit des Einzelnen in Form von Konsumentenwillkür und Konkurrententum zum Grundprinzip des Zusammenlebens erhoben hat. Wie vereinzelte Monaden existieren die bürgerlichen Individuen als gegeneinander abgegrenzten „Freiheits“-Behälter für sich. So etwas ist weder freiheitlich, noch sozial, sondern im wörtlichen Sinne asozial. Auch wenn wir das im direkten zwischenmenschlichen Kontakt nicht wahrnehmen (wollen), so sind wir im Prinzip doch alle vereinzelte und vereinsamte Konsumenten und Konkurrenten des Spätkapitalismus. Das hat mit wirklicher Freiheit genauso wenig zu tun wie das Leben von Einzelhäftlingen in einem Hochsicherheitstrakt bei dem es den Individuen aber materiell an nichts fehlt. 

 

Dass Menschen sich nicht impfen lassen wollen ist (bisher noch) deren Recht. Daher wäre ich auch gegen eine Impfpflicht – man beachte den Konjunktiv –, wenn die Ungeimpften dann konsequenter Weise in völliger Quarantäne verbleiben würden. Ihre Asozialität besteht jedoch darin, genau diese Konsequenz eben nicht zu ziehen, sondern so zu tun, als wären Maßnahmen und gesellschaftliche Spielregeln zur Bekämpfung einer medizinischen Seuche eine Einschränkung von Freiheit, wo es ja nur ihre Freizügigkeit und Willkür ist, die eingeschränkt wird. Daher bin ich ganz klar für eine allgemeine Corona-Impfpflicht, auch wenn die Impfstoffe bisher noch nicht Jahrzehnte lang durchgetestet sind. Denn Leben ist grundsätzlich lebensgefährlich und diesbezügliches Vollkasko gibt es leider nicht. Das bezeugen die Millionen von Corona-Toten doch weitaus deutlicher als die vereinzelten Impf-Toten. 

 

Und so absurd es für manche klingen mag: Die Corona-Maßnahmen sind kein Beispiel für Unfreiheit, sondern sie machen im Gegenteil Freiheit erst möglich. Praktische Beispiele für einen solchen Freiheitsbegriff zeigen sich in unserer Gesellschaft normalerweise selten im Alltag, sondern schimmern meist nur mal ganz kurz auf, wenn einzelne Menschen in Ausnahme- oder Katastrophensituationen Solidarität zeigen, die nicht auf Eigennutz gegründet ist. Dann nämlich zeigt sich „Freiheit“ von einer für uns ungewohnten Seite: als wirkliche Sozialität. 

 

„Freiheit“ als (Selbst-)Verwirklichung 

Genau das verweist in die Richtung einer „Freiheit“, die dieses Wort auch wirklich verdient. Sie geht über die bloße Begrenzung unserer Willkür im Sinne der bürgerlichen Gesetzgebung weit hinaus. Sie ist kein frei-sein-von, sondern ein frei-sein-zu. Aber zu was? 

 

Ich möchte es mal auf die Kurzformel bringen: Freiheit bedeutet die Möglichkeit zur Verwirklichung dessen, was an positivem sozialem Potential in uns steckt. Deshalb kann Freiheit nie nur ein persönlich individuelles Phänomen sein, sondern ist zwangsläufig immer ein gesellschaftspolitisches. Auch muss Freiheit immer ein Entwerfen auf Möglichkeiten beinhalten, weshalb sie nie als bloßer Zustand einfach so vorhanden ist. Vielmehr muss sie ständig durch gesellschaftspolitische Aktivität verwirklicht werden. Ein bloßer Rückzug ins private Hobby mag zwar erquicklich sein; mit Freiheit hat er jedoch genauso viel zu tun wie das Stranden auf einer einsamen, weitabgelegenen Insel, selbst wenn das leibliche Wohl gewährleistet ist. Auch für Robinson hat sich Freiheit erst einstellen können, als er seinen Gefangenen namens „Freitag“ als soziale Gemeinschaft anerkannt hat. 

 

KünstlerInnen, PhilosophInnen und andere kreativ Schaffende könn(t)en solch eine Freiheit erahnen (jedenfalls wenn sie nicht zu bürgerlich individualistisch geprägt sind). 

Ich denke aber eher, dass sich gerade die französischen Gelbwesten (Gilets Jaunes) auf gutem Weg zur Freiheit befanden (bis sie sich im Zuge von Corona aufgelöst haben): Was sich anfänglich als bloßes Eigeninteresse und konsumbürgerlicher Reflex auf die Erhöhung der Spritpreise ereiferte, schlug schon bald in eine wirkliche soziale Bewegung um. Die Gelbwesten hatten begriffen, dass es in einer marktwirtschaftlich dominierten Gesellschaft keine Freiheit z.B. von sozialer Angst geben kann. Angst vor Kündigung der Wohnung oder des Arbeitsplatzes, die Angst vor sozialem Abstieg sowie die Angst davor, auf Almosen an den Lebensmitteltafeln angewiesen zu sein, macht eine Gesellschaft grundsätzlich unfrei, nicht nur an den Rändern. Denn wir wissen ja: „Angst essen Seele auf.“ 

Auch kann eine Gesellschaft, in der es z.B. Kriminalität gibt, unmöglich frei sein, auch wenn sie sich die Freiheit (des Einzelnen) auf ihre Fahnen geschrieben hat. Denn wer kriminell wird, der folgt ja gerade seiner Willkürfreiheit und nimmt sich einfach das, was er gerne haben möchte. 

Nur um richtig verstanden zu werden: „sozial“ meint in diesem Zusammenhang nicht „selbstlos“, wohl aber ein Denken und Fühlen, das über den eigenen Bauchnabel hinaus geht und sich als Mitglied eines Sozialkörpers wahrnimmt.   

 

In unserer sogenannten „freiheitlichen“ Gesellschaft gibt es dagegen weitaus weniger Freiheit als wir meinen, und zwar nicht erst durch die Impfskeptiker. Auch die „nachhaltig“ überzeugten SUV-Fahrer, die ihre Klimakiller aus Spaß an der Freude fahren, sowie all die selbsternannten „Leistungsträger“, deren Gedanken einzig um den Profit kreisen, sind nicht das einzige Hindernis für gesellschaftliche Freiheit. Vielmehr ist es schon unser aller Grundüberzeugung, dass Freiheit sich in Konsumwillkür und deren gesetzlich geregelter Eindämmung erschöpft, die uns grundsätzlich unfrei oder zumindest nicht frei machen.  

 

Schließlich also, ganz in diesem Sinne: In Zeiten einer Pandemie sind auch Maske, Quarantäne, Kontakt- und Ausgangsbeschränkung ein Zeichen der Freiheit und nicht der Unfreiheit.